In der heutigen Arbeitswelt erwartet man von Unternehmen klare Kommunikation, Wertschätzung und ein Mindestmaß an Professionalität – besonders im sensiblen Bereich der Kündigung. Doch was passiert, wenn genau das Gegenteil geschieht? Wenn sich Vorgesetzte nicht mehr melden, Aufgaben ausbleiben, Gespräche vermieden werden und man sich langsam, aber spürbar aus dem Unternehmen gedrängt fühlt? Dieses Phänomen nennt sich „Quiet Firing“ – in der Praxis oft als Ghosting durch den Chef wahrgenommen. Was ursprünglich aus der Dating-Welt stammt, hat längst Einzug in moderne Arbeitsverhältnisse gehalten – mit ernsten Folgen für Betroffene.
Zwischen Rückzug und Rauswurf: Was genau ist Ghosting am Arbeitsplatz?
Ghosting durch den Chef bedeutet nicht, dass formal gekündigt wird – im Gegenteil: Die Kündigung bleibt aus. Vielmehr zieht sich die Führungskraft immer weiter zurück:
- Absprachen werden nicht mehr eingehalten
- Feedbackgespräche entfallen plötzlich
- Projekte oder Verantwortlichkeiten werden kommentarlos entzogen
- Einladungen zu Meetings bleiben aus
- Kommunikation erfolgt nur noch schriftlich oder gar nicht mehr
Die Strategie dahinter: Man soll das Unternehmen freiwillig verlassen – idealerweise ohne Aufhebungsvertrag oder Abfindung. Für Unternehmen ist das bequem, spart Kosten und vermeidet rechtliche Auseinandersetzungen. Für Mitarbeitende jedoch beginnt ein psychisch belastender Prozess aus Unsicherheit, Isolation und wachsendem Druck.
Die stille Taktik: warum Unternehmen ghosten
Ghosting ist meist keine spontane Laune von Führungskräften. Vielmehr handelt es sich um eine Mikrostrategie moderner Personalarbeit, wenn auch eine fragwürdige. Gründe für diese Entwicklung:
- Rechtliche Vorsicht: Kündigungen müssen gut begründet, dokumentiert und sozial verträglich sein. Ghosting kann den Weg bereiten, eine „Eigenkündigung“ zu provozieren.
- Fehlende Konfliktkultur: In vielen Unternehmen wird das direkte Ansprechen von Leistung oder Fehlverhalten vermieden.
- Zeitdruck im Management: Führungskräfte investieren lieber in neue Teammitglieder als in konfliktreiche Gespräche mit Altgedienten.
- Vermeidung von Entschädigungszahlungen: Wer selbst kündigt, hat in der Regel keinen Anspruch auf eine Abfindung.
In vielen Fällen steckt also Kalkül hinter der Funkstille – und das auf Kosten des Vertrauensklimas.
Die Folgen für Betroffene: Isolation, Druck, innere Kündigung
Das Gefühl, systematisch ausgegrenzt zu werden, wirkt sich massiv auf die psychische Gesundheit und die Arbeitsmotivation aus. Die Folgen können unter anderem sein:
- Selbstzweifel und Unsicherheit
- Stresssymptome wie Schlaflosigkeit, Antriebslosigkeit oder körperliche Beschwerden
- Sinkende Leistungsbereitschaft bis hin zur inneren Kündigung
- Verlust des Vertrauens in Führung und Unternehmenskultur
Nicht selten endet ein solches Ghosting in einem krankheitsbedingten Ausfall – was sowohl für Mitarbeitende als auch Unternehmen langfristig teuer werden kann.
Rechtliche Grauzone: was man gegen Ghosting tun kann
Formal gesehen ist Ghosting keine Kündigung – und gerade deshalb so schwer zu fassen. Dennoch haben Mitarbeitende Möglichkeiten, sich zu wehren:
1. Kommunikation einfordern
Man sollte zunächst aktiv das Gespräch suchen – schriftlich und nachweisbar. Wenn das Gespräch verweigert wird, dokumentiert dies die passive Ausgrenzung.
2. Arbeitsrechtliche Beratung
Ein Gespräch mit einem Fachanwalt für Arbeitsrecht kann helfen, die Situation einzuordnen und rechtliche Schritte zu prüfen.
3. Betriebsrat einbeziehen
Falls vorhanden, sollte man frühzeitig den Betriebsrat einschalten, um Unterstützung und Schutz zu erhalten.
4. Tagebuch führen
Dokumentationen über ausgefallene Gespräche, gestrichene Aufgaben oder E-Mail-Verläufe können als Beweismittel dienen.
5. Kündigungsschutzklage erwägen
Wenn aus der Situation eine formale Kündigung resultiert, ist die Kündigungsschutzklage innerhalb von 3 Wochen nach Zugang der Kündigung möglich – hier kann auch eine Abfindung erstritten werden.
Ghosting ist kein Einzelfall: Studien und Stimmen aus der Praxis
Studien und Umfragen belegen, dass Ghosting längst kein Randphänomen mehr ist:
- Laut einer Umfrage des Beratungsunternehmens Gallup (2023) fühlen sich rund 20 % der Beschäftigten in Deutschland von ihrer Führungskraft emotional distanziert.
- Eine Studie der Boston University beschreibt „Quiet Firing“ als eine Form „passiver aggressiver Führung“ und sieht langfristige Schäden für die Unternehmenskultur.
- Glassdoor-Analysen zeigen: Unternehmen, die für ihre schlechte Kommunikation bekannt sind, erhalten signifikant schlechtere Arbeitgeberbewertungen – was das Recruiting neuer Talente erschwert.
Ghosting ist also nicht nur unethisch, sondern unternehmerisch kurzsichtig.
Ein toxisches Arbeitsklima lässt sich nicht schönreden
Für Unternehmen mag es kurzfristig angenehm erscheinen, Konflikte zu vermeiden. Doch langfristig führt Ghosting zur Erosion von Loyalität, Motivation und Reputation. Besonders in Zeiten des Fachkräftemangels kann man es sich schlicht nicht leisten, Mitarbeitende stillschweigend aus dem Unternehmen zu drängen.
Eine gesunde Führungskultur erfordert Klarheit, Feedback und den Mut zum ehrlichen Gespräch – auch wenn es unangenehm wird. Ghosting signalisiert das Gegenteil: Schwäche im Umgang mit Verantwortung.
Was wäre, wenn Führung wieder Verantwortung hieße?
Ghosting durch den Chef ist ein Symptom eines größeren Problems: mangelnde Führungskultur in einer zunehmend komplexen Arbeitswelt. Doch Unternehmen, die bereit sind, in Kommunikation, Transparenz und Menschlichkeit zu investieren, setzen ein starkes Zeichen – intern wie extern.
Denn Kündigungen sind nicht nur Trennungen, sie sind immer auch ein Ausdruck der Unternehmenskultur. Und die Frage, wie man sich verabschiedet, verrät oft mehr als jeder Recruiting-Slogan.